1. NEUE OSTFENSTER:
EIN ENTWURF VON OLAFUR ELIASSON

Ólafur Elíasson ist einer der renommiertesten Künstler der Gegenwart. Weltweit macht er mit aufsehenerregenden Installationen von sich reden und begeistert mit farbigem Glas, spiegelnden Materialien oder künstlich erzeugten Naturphänomenen wie Wind, Wasser, Licht oder Nebel. Für seinen Entwurf für die Ostfenster im Greifswalder Dom hat er sich intensiv mit dem Werk Caspar David Friedrichs auseinandergesetzt. So sind Licht- und Farbspektren in Friedrichs Bildern bestimmend für den Fensterentwurf. Darin nehmen farbige Gläser das von Osten in die Kirche einfallende Licht auf. Spiegelinstallationen lenken und multiplizieren es. Der Kirchenraum wird im Wandel der Tages- und Jahreszeiten illuminiert.

CHORFENSTER FÜR DOM ST. NIKOLAI

Vision

Ich stelle mir vor, wie mein Kunstwerk für den Dom St. Nikolai in Greifswald die Atmosphäre im Altarraum transformiert, indem es den Wandel der Licht- und Wetterverhältnisse außerhalb des Kirchenraums nutzt. Wegen ihrer Ausrichtung nach Osten fällt durch die Fenster des Kirchenchors je nach Witterung und Jahreszeit normalerweise nur in den Morgenstunden direktes Sonnenlicht. Aus diesem Grund werde ich außerhalb der Fenster einen Heliostat installieren, einen Apparat, der mithilfe eines beweglichen Spiegels das Sonnenlicht einfängt und bis in den Nachmittag umlenkt, sodass es durch die neugestalteten Buntglasfenster fällt. Die Zeitspanne, in der das Tageslicht die Apsis durchdringt und den Raum ebenso wie die Chorwand in farbiges Licht taucht, verlängert sich dadurch. Diese Wirkung wird mithilfe von zusätzlichen Spiegeln, die im Innenraum in Fensternähe angebracht werden, verstärkt. Am Nachmittag gewinnt das Raumerlebnis durch die gelenkte Reflexion des Sonnenlichts – der Tag wird sozusagen gespiegelt.

FARBE UND GEOMETRIE

Das einfallende Licht wird durch zwei neue Elemente der Chorfenster beeinflusst, die einander ergänzen: zum einen durch den Farbverlauf, zum anderen durch das dynamische geometrische Muster der Bleiverglasung. Der chromatische Verlauf er Verglasung ist von Huttens Grab (um 1823/24) inspiriert, einem Werk Caspar David Friedrichs. Die Farben der Buntglasfenster orientieren sich an den Tönen des Gemäldes, die den Schein der Dämmerung zeigen, der durch die  Fensteröffnungen einer Kirchenruine fällt. Die Farbübergänge verlaufen von Rötlich zu Gelb, um zum oberen Rand der Fenster hin bläulich transparent zu werden.
Das von mir gestaltete geometrische Muster für die gotischen Fenster  entwickelt sich von Rauten und Quadraten im unteren Bereich bis hin zu sich überlagernden, größer werdenden Kreisen im oberen Bereich. Der Verlauf des Musters spielt auf einen Prozess potenziell endloser Veränderung an, der sich über die Grenzen der Fenster hinaus fortsetzen könnte. Die Kreise korrespondieren mit den existierenden Rundfenstern, die den krönenden Abschluss der Fenster bilden; die Rauten variieren ein geometrisches Motiv, das sich häufig in der Gestaltung von Kirchenfenstern findet, hier aber eine neue Wendung gewinnt. Während mein Entwurf traditionellen, universellen Formen verpflichtet bleibt, ist die geometrische Gesamtkomposition zeitgemäß und dynamisch.

TRANSPARENZ UND ABSTRAKTION

In meinem Kunstwerk schwingt die Geschichte des Gebäudes mit, eingebunden wie in einen großen Resonanzkörper: Es taucht den Innenraum des Doms, der im 19. Jahrhundert in Reaktion auf seine mittelalterlichen Formensprache renoviert wurde, ins Licht des 21. Jahrhunderts. Eingebunden in die Architektur des Kirchenbaus, spielt mein Kunstwerk mit den Lichtverhältnissen und erlaubt, sie bewusst wahrzunehmen und zu erleben. Als meditativer Fokus hinter dem Altar lädt das Werk zum Nachdenken und Innehalten ein – Aspekte, die sowohl für die Romantik Caspar David Friedrichs als auch für die evangelische Spiritualität zentral sind.
Die Chorfenster stehen sinnbildlich für den Lauf der Zeit. Im Zusammenspiel erzeugen Farbverlauf und Entwicklung des geometrischen Musters den Eindruck von Unendlichkeit, Komplexität und ständiger Veränderung. Der graduelle Verlauf der Farben und ihrer Intensität lassen das Licht und seine permanente Veränderung anschau-lich werden. Dank seiner universellen geo-metrischen Muster und abstrakten Bildsprache spricht das Kunstwerk ein vielfältiges Publikum an, ein religiöses ebenso wie ein säkulares. Ohne sich auf ein konkretes Sujet oder eine bestimmte Geschichte festzulegen, rückt das Kunstwerk unsere Wahrnehmung in den Mittelpunkt und schenkt ihr besondere Aufmerksamkeit. Das Motiv entwickelt sich vielmehr im Zusammenspiel mit den Veränderungen des Himmels, des Wetters und der sich wandelnden Lichtverhältnisse im Außen- und Innenraum des Doms. Die neuen Chorfenster verstärken Eindrücke, die durch physikalische Gesetzmäßigkeiten entstehen und schaffen eine Atmosphäre, in der Emotionen ebenso wie nonverbale Empfindungen und flüchtige Momente willkommen geheißen werden.
Schon seit meinen frühesten Arbeiten beschäftige ich mich mit physikalischen Phänomenen in der Natur, mit geometrischen Mustern, komplexen Ordnungen und Symmetrien. Sie helfen uns, die Welt zu ordnen, im Kleinen wie im Großen. Oft greife ich auf flüchtige Materialien zurück – wie Nebel, Eis oder Wasser – immer in der Auseinandersetzung mit Farben, Licht, Atmosphäre und Abstraktion. Aus meiner Sicht steckt in diesen Materialien und Themen ein besonderes Potenzial, darüber nachzudenken, dass unser Ich nicht fest und unveränderlich ist, sondern sich durch den ständigen Austausch mit anderen und der Welt um uns herum – mit Ideen, Geschichten und Orten – entwickelt. Abstraktion gibt uns Zugang zu Welten, die unser Hier und Jetzt übersteigen. Es geht darum, die Dinge aus verschiedenen Perspektiven zu sehen, ihr Potenzial in den Blick zu nehmen. Mit meinem Kunstwerk für den Dom St. Nikolai hoffe ich, den Blick für solch abstrakte Räume zu öffnen.