Von Zusammenbruch und Befreiung - 75 Jahre Kriegsende in Greifswald
Ursprünglich wollte die Stadt Greifswald in diesen Tagen an den 75. Jahrestag der kampflosen Übergabe Greifswalds erinnern. Im Dom war dazu eine Andacht geplant. Corona-bedingt können diese Veranstaltungen nicht stattfinden. Hier ist der Text, der bei der Dom-Andacht vorgetragen werden sollte:
Sowjetische Panzer vor dem Rathaus. So wurde die kampflose Übergabe 1945 im Film „Gewissen in Aufruhr“ dargestellt. Quelle: Archiv Peter Binder (OZ 30.04.2013)
In einem erst 2007 wiedergefundenen [1] Tagebuch über das Kriegsende in Greifswald kann man lesen:
„28.4. [1945] Gegen Morgen einige Bomben (Gaswerkgegend) … Die Nachbarn ziehen scharenweise fort. … Gebot allen Alkohol zu vernichten. … Das Parlamentair-Auto abgefahren.
29.4. [1945] „Eiserne Ration.“ Anstehen von 6.45 Uhr – 15.15 Uhr Erfolg 3 Pfd. Fett, 8 Pfd. Zucker, leider kein Mehl u. keine Nährmittel, aber Café!“
Die stenographischen Notizen stammen von der damals 54 jährigen Milli Hermann. Sie war die Frau des Greifswalder Theologieprofessors Rudolf Hermann, der zum erweiterten Kreis der Männer und Frauen gehörte, die in den letzten Apriltagen 1945 die kampflose Übergabe Greifswalds an die Rote Armee möglich machten. Zu Recht ist dieses Datum 28./29. April für Greifswald ein besonderer Gedenktag: Es erinnert an das Verantwortungsbewußtsein und den Mut jener „Parlamentaire“ und ihrer Vertrauensleute in der Stadtverwaltung, dem Militär, der Universität und der Zivilgesellschaft. Aber es erinnert auch an diese ganz besondere Stunde Null der Greifswalder Geschichte: an Zusammenbruch und Befreiung zu einem neuen Deutschland.
An den Tagebuchaufzeichnungen Milli Hermanns kann man gut ablesen, was das im Alltag der Greifswalder(innen) damals bedeutete. Sie schildert das Nahen der Front, die Flüchtlingssituation, ihre Hilfsdienste im Lazarett – und ganz nebenbei erwähnt sie auch die Abfahrt des „Parlamentair-Autos“. Eingeweihte wußten, was in dieser Nacht passieren sollte. Ihr Mann wird in jener Nacht mit dafür sorgen, dass nicht eine Gruppe bewaffneter Volkssturm-„Bengels“ alles zunichte macht. Am Morgen werden in den Greifswalder Fenstern und an den vier Kirchtürmen weiße Lacken befestigt, die die Kapitulation der Stadt anzeigen. Um 11 Uhr fahren die ersten russischen Panzer auf der Anklamer Straße.
Man liest bei Milli Hermann auch wie schwer es schon am nächsten Tag war, das Nötigste an Lebensmittel im wahrsten Sinne zu erstehen. Auch die Übergriffe der Besatzungsarmee dokumentiert sie andeutend und die Angst der Bevölkerung vor dem, was nun kommt.
Nur zwei Wochen später findet sich aber auch ein Eintrag wie dieser:
„13. Mai [1945] Sonntag ohne Aufregungen. St. Nikolai gut besucht, gute Predigt“
Was mag wohl damals gepredigt worden sein, im Greifswalder Dom – eine Woche nach Kriegsende? Was war damals eine „gute Predigt“? Eine, die den Menschen ins Gewissen redete? Eine, die sie trotz allem zu trösten und zu stärken vermochte? Milli Hermann war keine unkritische Kirchgängerin. Für den Pfingstsonntag eine Woche später notiert sie:
„Vormittags St. Nikolai, übervoll, aber die Predigt ‚Steine, statt Brot‘. Zuhause unbehelligt. Erste Zeitung.“
Das Leben kehrt langsam zurück. Doch umso mehr brauchte es nicht nur das tägliche Brot – was mehr als knapp war („Mein Gewicht: 52,5 kg. (1938: 83!)“ – sondern auch geistliche Stärkung: Wegweisung wie es weiter gehen soll und kann - im neuen Deutschland und in einer erneuerten Kirche!
Doch überhaupt: welch ein Segen, dass es damals im unzerstörten Greifswald noch die Kirchen gab, wo die Menschen zusammenkommen konnten! In den meisten Städten Deutschlands war das nicht der Fall! Man kann sich vorstellen, wie gut es den Menschen getan haben muss, das erste Pfingstfest in Friedenszeiten feiern zu können: in „übervollen“ Kirchen – wenn auch mit knurrendem Magen und manchen Sorgen.
Liest man heute – 75 Jahre später, in ganz unerwartet merkwürdigen Corona-Zeiten – dieses Tagebuch, dann geht einem vieles durch den Kopf: Was trägt im Leben? Worauf kommt es an, wenn die Normalität zusammenbricht? Was heißt es wirklich, wenn „nichts mehr so ist, wie es mal war“? So hört man es jetzt ja manchmal.
Doch: wie gut geht es uns heutigen, gemessen an dem, was unsere Großeltern damals durchmachten! Wie reich ist unser Land heute! Vor allem: welch ein Segen ist es, in Friedenszeiten zu leben! All unsere gegenwärtigen Sorgen sind daran gemessen sehr klein.
Aber um so wichtiger ist es, sich zu erinnern an die, die vor 75 Jahren für Frieden sorgten, Verantwortung übernahmen und Greifswald eine neue Zukunft schenkten.
Übrigens besuchte Milli Hermann – laut ihrem Tagebuch – am 5. Mai 1945 eine Lehrveranstaltung ihres Mannes an der Theologischen Fakultät. Die arbeitete nämlich noch! Man höre und staune:
„5. 5. [1945] Wieder mit ins Kolleg (Kapitel aus der Ethik: Aristoteles, Augustin.) 6 Hörerinnen! … ich allein nachhause. Beim Kochen nun Tohuwabohu, da 3 Parteien [bekocht werden mussten] … abends wieder Russen an der Hintertüren …“
Sind das nicht bemerkenswerte Frauen (!) gewesen, die sich hier - eine Woche nach dem „Zusammenbruch“ – zum Studium treffen, bevor es wieder darum geht, den Alltag zu meistern. Und was lesen sie? Einen über 2000 Jahre alten Text über die menschlichen Tugenden – und wie gefährdet sie sind. Welche eine „Befreiung“ muss es gewesen sein, dies wieder in Frieden tun zu können!
Gebet
Guter Gott, wir denken heute an das Kriegsende vor 75 Jahren – hier in Greifswald.
Wieviel Schuld hatten die Deutschen auf sich geladen!
Wie groß war dann auch ihre Not in der bedingungslosen Kapitulation.
Wir denken an die unzähligen Opfer des Krieges.
Wir denken an die mutigen Männer und Frauen, die damals in Greifswald für eine kampflose Übergabe sorgten.
Wir danken dir, dass du Deutschland und Europa einen Neuanfang geschenkt hast – auf dass wir seit 75 Jahren in Frieden leben können.
Wir bitten dich: lass uns heute zu Friedensstiftern werden – gibt uns das nötige politische Urteil und den Mut dazu.
Wir bitten dich für unsere Kirche. Dass sie dein Wort verkündet und zum Frieden ruft.
Wir beten gemeinsam: Vater unser im Himmel …
amen
[1] Vgl. dazu: Irmfried Garbe. Die Greifswalder Stadtübergabe 1945 und ihre unmittelbaren Folgen. Eine Quellensynopse aus Anlass eines neuen Fundes, in: Zeitgeschichte Regional. Mitteilungen aus Mecklenburg-Vorpommern 11 Jg. 1/07, S. 79-87.